ARCHIV [2003]: über die anfänge der arbeitsgesellschaft [Udo Riechmann]

über die anfänge der arbeitsgesellschaft

Über die Anfänge der Arbeitsgesellschaft, ihr selbstproduziertes Ende und warum wir so vernarrt in sie sind 

Als das europäische Mittelalter am finstersten schien, bildeten sich in einem jahrhundertelangem Chaos die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und seelischen Grundlagen des heutigen Kapitalismus. Der Ausweg aus diesen Zeiten von Inzest, Mord und Totschlag, wie sie die Heldenlieder besingen, führte zu einem weltgeschichtlich einmaligen, über tausendjährigen Wirtschaftswachstum, dessen Überproduktion und Rohstoffverschwendung wir heute nicht mehr Herr werden. Den Ursachen dieser Entwicklung wird in der Veranstaltungsreihe nachgegangen werden.

Alle Vorträge Hält Udo Riechmann

Freitag, 14. November 2003, 20 Uhr
Beharrung und Veränderung:
Überlegungen anhand von Marx, Freud und Max Weber

Am Ausgang der Industriegesellschaft steht die Menschheit vor einer Vielzahl von Problemen, deren technische und materielle Lösungsmittel oft schon zur Verfügung stehen. Was nicht vorhanden ist, ist die Bereitschaft der Menschen, die vorhandenen Auswege aus der Krise auch zu nutzen. Denn das würde bedeuten, dass sie ihre Verhaltensstrukturen und ihr Denken ändern. Diese Gewohnheiten scheinen jedoch in der Lebensgeschichte des einzelnen wie in der Kultur, in der er lebt, sehr tief verankert. Ich spreche bewusst nicht von der Phylogenese oder auch Gattungsgeschichte, da den Weg von den frühen vorderasiatischen Hochkulturen hin zum World Trade Center eben nur
ein Teil der Gattung und ein Teil der Stämme gegangen ist. Denn diese Lebensform, die wir so angstbesetzt verteidigen, löst ihrerseits in anderen Kulturen tiefe Ängste aus.
Was geschieht also, wenn eine neue Gesellschaftsform mit ihren neuen Arbeits-, Lebens- und Denkweisen sich ausbildet und eine andere, die seit vielen Generationen und seit Menschengedenken sich bewährt hat, ablöst? Was geschieht, damit sie sich ihrerseits im Fühlen, Denken und Handeln verankert?

Dienstag, 9. Dezember 2003, 20 Uhr
Chaos und erste Ordnung:
Die Zeit der Völkerwanderung

Jahrhundertelang sind vom Norden her immer wieder fremde Völker in das römische Reich eingebrochen. Es zerfiel schließlich in zwei Hälften und überlebte zunächst in seinem östlichen Teil. In diesem Kampf zerschlugen die Germanen nicht nur die politischen Strukturen des Westreichs, es verkümmerten auch die sozialen und ökonomischen. Von den germanischen Stämmen in der Anfangszeit blieb nicht viel, in manchen Fällen nur der Name, andere wurden ganz aufgesogen. Nach Niederlagen waren sie in den Siegern aufgegangen oder sie schlossen sich freiwillig größeren und stärkeren Stämmen an. So konnten Goten zu Hunnen und Hunnen zu Langobarden werden. Bei Wanderungen blieben viele zurück, andere schlossen sich den Durchziehenden an. Die Lieder, die davon erzählen, waren nach mittelmeerischen Einflüssen, das Hildebrandlied sogar nach persischen Vorbildern gebildet. Die isländische Edda zeigt mehr Einflüsse südlicher Hochkulturen als urgermanische.
Auf diesen Trümmern kam es nun im vierten und fünften Jahrhundert im Gebiet zwischen Seine und Rhein zu einer Neugründung, die sich von allen bisher bekannten Unterschied: dem Fronhof. Er war die erste, sich selbst reproduzierende Gesellschaftsform, die nicht mehr auf der vorgegebenen Verwandtschaft beruhte, sondern sich rein nach den Bedürfnissen der Arbeit richtete.

Freitag, 16 Januar, 20 Uhr
Gilden und Städte:
Die Herausbildung abendländischer Strukturen

Schon auf den Fronhöfen war es zu Schwureinigungen gekommen. D. h. nicht Herr und Gefolgschaft haben sich zu einem bestimmten Zweck, zum Beispiel einem Fronhof oder einem Heereszug verschworen, sondern Gleiche zur Wahrung ihrer Interessen. Zwar besaßen größere Fronhöfe wie Pfalzen, Grafen- und große Klosterhöfe ein eigenes Transportwesen und hatten ein recht differenziertes Handwerk, doch zur Versorgung mit Gewürzen und anderen Luxusgütern bedurften sie Fremder. Syrer, Juden und zunehmend auch aus der eigenen Gesellschaft Herausgefallene übernahmen diese Aufgabe.
Auf ihren gemeinsamen Handelszügen schlossen die Kaufleute sich zum gegenseitigen Schutz zunächst zeitweise zusammen: Sie verschworen sich zu Gilden. Dieser Schwur ist eine rituelle Handlung. Gilden sind also ab ovo religiöse Gemeinschaften. Sie können außer dem Ahnenkult alle Funktionen übernehmen, die traditionell Familie und Sippe zukommen: Schutz und Trutz in allen Lebenslagen, Hilfe in der Not, Versorgung der Hinterbliebenen. Vor allem waren sie aber freie Vereinigungen nach dem Bedürfnis der Arbeit. Hierauf hatten die großen Fronherren, Grafen, Bischöfe und Äbte Rücksicht zu nehmen, wenn sie aufgrund eines gesteigerten Agrarproduktes versuchten, im Interesse einer regelmäßigen Versorgung, Kaufleute im Umfeld ihres Hofes sesshaft zu machen. Mit Privilegien werden bei der Stadtgründung die Rechte der Gilden bestätigt.

Freitag, 13. Februar, 20 Uhr
Die Besonderheit des europäischen Mittelalters im Vergleich zur Entwicklung des Islam

Während im Nordwestteil des Römischen Reiches alles zu Bruch gegangen war, konnten die Gebiete am östlichen Mittelmeer ihre Strukturen weitgehend bewahren. Hier war schon vor den Römern, spätestens seit Alexander dem Großen ein Raum entstanden, in dem sich viele zum Teil sehr alte Kulturen durchdrangen und viele Religionen koexistierten. Auch wenn die militärische und zivile Verwaltung allmählich morsch geworden war, blieb die zugrunde
liegende Gesellschaft weitgehend intakt. Das gilt auch für das angrenzende neupersische Sassanidenreich. Diese hochentwickelten Länder fielen den Arabern bei ihrem ersten Ansturm quasi in den Schoß. Sie konnten deshalb ihre Stammes- und Familienstrukturen weitgehend beibehalten. Die Polygamie machte es einfach, sich sowohl den lokalen Eliten zu verschwägern wie auch die Sippentreue zu wahren. Familienstrukturen und die darauf aufbauende Sozialisation wurden weder bei Arabern noch bei den eroberten Völkern verändert. Der Islam tritt das Erbe der Hochkulturen an und bringt es zur Blüte. Er leistet vom Indus bis zu den Pyrenäen gewaltige kulturelle, technische und agrikulturelle Transferleistungen, von der Null und dem Dezimalsystem bis hin zu Zuckerrohr, Baumwolle und den verschiedensten Obst- und Gemüsesorten. Aber er treibt keine neue Entwicklung an. Schon vor dem Mongolensturm ist seine Kraft weitgehend erschöpft.

Die Germanen müssen aus den Trümmern ihrer eigenen Stämme und auf den Ruinen der antiken Randkulturen mit nahezu verschütteter Überlieferung eine neue Gesellschaft aufbauen. Zunächst sind sie hoffnungslos unterlegen. Doch ihre auf Arbeit gegründete Gesellschaft erweist sich sehr langfristig als überlegen. Tausend Jahre braucht sie, die anderen Kulturen wie China, Indien und den Islam einzuholen. Wenige Jahrhunderte reichen, alle in koloniale oder halbkoloniale Abhängigkeit zu bringen.

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