ARCHIV [2002]: denkbar lectures (Hans-Jürgen Heinrichs)

denkbar lectures 2002

Heilserwartungen und Zerstörungsphantasien der Menschen
Wege und Irrwege im Neuen JahrtausendHans-Jürgen Heinrichs, der im Mai 2002 mit dem ersten „Denkbar-Preis für Dialogisches Denken“, ausgezeichnet wurde, wird in diesem und im nächsten Jahr insgesamt sechs lectures in der DENKBAR halten. 

 

1. lecture
3. Juli 2002, 20:00 Uhr
Die „Achse des Bösen“.
Auf den Spuren eines politischen und obsessionellen MythosDer Mythos von der „Achse des Bösen“ wird als Beispiel für die unheilvolle Praxis politischer Dämonisierung interpretiert.
Seit seinem Besuch Ende Mai in Deutschland ist der Widerstand gegen Präsident Bushs Politik massiver geworden. Die von diesem Mythos ausgehende weltpolitische Gefahr ist unverkennbar. Ebenso die unverhohlene Menschenverachtung. Das Böse wird in Achsen verortet, die sich durch Staaten jenseits der „zivilisierten Welt“ ziehen sollen. Der Begriff der Achse versucht eine Ausgrenzung des Bösen aus dem Reich der guten Menschen, auf Kosten von Kulturen, die zu einem Negativ-Mythos zusammengeschweißt werden. Ausgehend von kulturanthropologischen Überlegungen werden die Ursprünge und Folgen eines solchen Denkens und der daran orientierten Politik analysiert.2. lecture
23. Oktober 2002, 20:00 Uhr
Vom Wandel der Theorien.
Über die Brauchbarkeit kulturwissenschaftlicher Traditionen für ein modernes Weltverständnis

Die vielfältigen Anwendungs- und Missbrauchsmöglichkeiten der Genforschung und die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon waren zu Beginn des neuen Jahrtausends die beiden großen Herausforderungen für den westlichen Menschen und sein kulturelles, sein anthropologisches Selbstverständnis. So stellte sich für die Kulturwissenschaften mit Nachdruck die Frage, wie sie in einer Situation wieder an Bedeutung gewinnen können, in der die Technologien, Naturwissenschaften und Politik übermächtige Dimensionen annehmen und Weltwissen technologisch dominiert wird.
Dabei scheint der Kultur-Begriff in den Hintergrund zu treten. Ohne die Wissenschaften aber, die sozio-kulturelle Zusammenhänge zum Gegenstand haben, engt sich unser Blick für die Komplexität von Existenz, von Leben und Tod immer mehr ein. Ist die Zeit der großen geisteswissenschaftlichen Theorien wirklich vorbei?

3. lecture
20. November 2002, 20:00 Uhr
Der Zweite Tod und die Zweite Schöpfung.
Antigone, der Mythos und das Genom

Einschneidender denn je sind die Möglichkeiten des Menschen, sich in die Schöpfung einzumischen. Deutlicher als je zuvor erscheint das Schöpferische im Zeichen der Bedrohung und der Tragödie.
Zunächst werden die griechische Tragödie und die Figur der Antigone sowie Marquis de Sades Spiele des Schmerzes als Manifestationen und Überschreitungen des Gesetzes dargestellt.
Dann wird die Art der Überschreitung in der Genomforschung thematisiert. Welche Spiele des Schmerzes werden hier in Szene gesetzt? In der Partitur des Genoms visiert die wissenschaftliche Inszenierung eine Zweite Schöpfung an und spielt mit dem Zweiten Tod des bereits totgesagten Menschen: Wie Antigone, bevor sie selbst Hand anlegt und ihren Zweiten Tod stirbt, ist der Mensch bei lebendigem Leibe eingesperrt.
Schließlich wird der Blick noch einmal auf die künstlerischen Schöpfungen und deren Transzendierung des Individuellen gelenkt.

 

4. lecture
27. März 2003, 20:00 Uhr
„Gott spielen heißt noch nicht Gott sein“
Gentechnische Schöpfungsphantasien
am Abgrund?Die augenblicklichen Erfolge in der mit rasanter Geschwindigkeit sich entwickelnden Genforschung fallen in eine Zeit, da sich die Epoche der Post- und Nachmoderne verabschiedet hat. Eine an Utopien und Visionen noch arme Phase hat begonnen und füllt sich langsam mit Ideen und Phantasien vom neuen, gentechnisch manipulierten Menschen.
Als Verheißung und als Drohung gleichermaßen ist es dem neuen Menschen auf das Banner geschrieben: Das Genom ist entschlüsselt. Der Beweis dafür liegt uns vor: eine Karte, die aufzeigt, dass das menschliche Genom 32.000 (und nicht die erwarteten 100.000) Gene enthält.
Wo schlägt deren Nutzbarmachung in Hybris um? Stellt sich die Genforschung in weiten Teilen devot in den Dienst einer Vision vom künstlichen Menschen? Noch sehen wir nur sehr unscharf die Schnittflächen, an denen der Forscher von dem Unheimlichen seines Phantasmas – transhumane Wesen als Vorbild anzusehen – eingeholt werden könnte.Hans-Jürgen Heinrichs unternimmt den Versuch, die Traditionen in der Schaffung eines künstlichen Menschen zu vergegenwärtigen. So sollen die Phantasien und Konstruktionen eines „achten Schöpfungstages“ einsichtig werden.

 

5. lecture
24. April 2003, 20:00 Uhr
Permanenter Krieg und geklonte Menschen
Schreckensvisionen oder Realität
Krieg und Frieden, Krankes und Gesundes sind in eine ganz neue Nähe zueinander gerückt. Die konventionellen Koordinatensysteme, in denen wir bisher diese für die Zukunft des Menschen zentralen Phänomene betrachteten, sind zerbrochen. Krasser denn je stehen sich Schreckensvisionen und Heilserwartungen gegenüber: permanenter Krieg und der geklonte Mensch. Krieg erscheint dabei der westlichen Welt in der Form des Terrors als unheilvolle Bedrohung, in der Form des Antiterrorkrieges jedoch als Rettung der Zivilisation. Gleichermaßen kann auch die „Waffe“ der Genforschung als Rettung und als Zerstörung betrachtet werden. Herfried Münklers Charakterisierung der neuen Kriege – sie führen sich selbst, und die an ihnen Beteiligten werden geführt – trifft auch auf die Genforschung zu.
Entgleitet dem Menschen die Welt: im Terror und Antiterror, in den Kriegen, ökologischen Katastrophen und einer Forschung, die vielleicht eines Tages nicht mehr beherrschbar ist und deren Produkte Maßstab unseres Lebens werden könnten? Werden das Unvorstellbare und der Schrecken zum Maß aller Dinge, oder gibt es Chancen des Wandels und begründete Visionen einer Welt mit besseren, weniger destruktiven Menschen? Ist der Mensch nur ein Halbfabrikat und ein „Irrläufer“ der Evolution?Damit ist diese Reihe der Denkbar-lectures von Hans-Jürgen Heinrichs abgeschlossen. Der zwischen Gesellschaftstheorie, Human- und Biowissenschaften geführte Dialog wird im Herbst mit einer von Hans-Jürgen Heinrichs konzipierten Vortrags- und Gesprächsreihe, unter dem Titel Krieg und Genforschung die großen Herausforderungen im Neuen Jahrtausend, fortgesetzt.

Dem Ethnologen und Schriftsteller Hans-Jürgen Heinrichs wurde im Jahr 2002 der erste DENKBAR-Preis für dialogisches Denken verliehen.

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